Zahnärzte kontra AOK: „Das ist legitimierte Zechprellerei“

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Der Streit zwischen Zahnärztegemeinschaften und der Krankenkasse droht zu eskalieren – Kasse: Schuld an den Puffertagen hat die KZVB! Anfang Oktober meldeten die Medien, dass die Patienten der AOK in Bayern und einiger kleinerer Kassen vom Zahnarzt nur noch die „dringend notwendigen“ Behandlungen bezahlt bekämen. Als solche gelten Schmerz- oder Parodontosebehandlungen oder Zahnersatz. Als solche gelten nicht die sogenannten konservierenden chirurgischen Leistungen wie Zahnfüllungen oder Wurzelbehandlungen. Sogenannte Puffertage wurden ausgerufen. Durch die Schar der rund 7700 niedergelassenen Zahnärzte in Bayern ging ein Aufschrei. Auch die Patienten waren verunsichert. Puffertage hatte es immer wieder mal gegeben, im Höchstfall aber für zwei Wochen, drei Monate lang sollten sie noch nie gelten. Ein Schiedsgericht wurde angerufen. Jetzt nach zwei Monaten ist der Sachverhalt unverändert. Der Vorsitzende des Schiedsgerichts wurde wegen Befangenheit abgelehnt. Es ist bis dato noch nicht zusammengetreten.


Unterlassungsklagen gegen Anzeigen


Die Zahnärzte aber sind aufgebrachter denn je, sehen eine jährlich wachsende Einbuße auf sich zukommen. Über ihre Standesvertretungen wirkt die Zahnärzteschaft seit Jahren auf die politisch Verantwortlichen ein. Ziel: Die Budgetierung als leistungsfeindliches und ungerechtes Mittel der Kostendämpfung abzuschaffen. Das ist bislang nicht geschehen. Die Zahnärzte haben sich jüngst bayernweit aufgrund der anhaltenden, für sie „untragbaren“ Situation in Anzeigenkampagnen zu Wort gemeldet. In der Region Passau hat der Zahnärztliche Förderkreis (ZÄF) z. B gefragt: „AOK Bayern – Wellness wichtiger als Zähne?“ „Warum reicht das Geld in Bayern nur für drei Quartale Zahnbehandlung? … Wo bleibt das Geld? Fragen Sie bei anderen Kassen nach!“ … „Fragen Sie Ihre AOK – ob sie noch richtig versichert sind!“
Die AOK Bayern hat darauf reagiert und Unterlassungsklagen in Höhe von je 20 000 Euro gegen bayerische Zahnärztegemeinschaften angestrengt. Laut Dr. Markus Werner, Vorsitzender von ZÄF Region Passau (159 Mitglieder), sind 49 Vereine mit einer Unterlassungsklage belegt, einige mussten bereits zahlen. „Es eskaliert“, sagt der Passauer Zahnarzt Dr. Diethard Galler, und sein Pockinger Kollege Werner ergänzt: „Wir müssen die Patienten aufklären, wie es um uns steht.“ Die beiden sind der Meinung, die „Fürsorgeverweigerung gegenüber den AOK-Versicherten“ durch die AOK Bayern öffentlich in Anzeigen diskutieren zu müssen.
Laut Pressesprecher der AOK-Bayern gehe man „nicht gegen freie Meinungsäußerung vor, sondern lediglich gegen die Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen.“ Jedes Unternehmen habe das Recht, sich gegen unwahre Äußerungen zu wehren, die geeignet sind, ihm Schaden zuzufügen. „Sowohl die Zahnärzte als auch die AOK Bayern haben in den konkreten Fällen die Entscheidung der Gerichte abzuwarten und zu respektieren.“
Wie konnte es so weit kommen? Die AOK Bayern hat laut Mitteilung für das Jahr 2009 488 Millionen Euro den Zahnärzten zur Verfügung gestellt. Für 2010 wurde der KZVB die gesetzlich höchstmögliche Steigerungsrate von 1,54 Prozent gegenüber dem Vorjahr angeboten. Darüber hinaus wurde die steigende Zahl von AOK-Mitgliedern berücksichtigt. Für 2010 stünden als Gesamtvergütung somit über 508 Millionen Euro für zahnärztliche Behandlung der Versicherten zur Verfügung. Hinzu kämen weitere Ausgaben, z.B. für Zahnersatz.
Anfang des 3. Quartals stellte sich heraus: 30 Millionen Euro fehlen. Die Aufgabe der Verteilung obliegt der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Bayern (KZVB). Die Vertragszahnärzte werfen der AOK vor, signifikant weniger Geld in den KZVB-Topf gelegt zu haben als andere Kassen, sich Zusatzangebote oder Kundengewinnungsanzeigen sowie wertvolle Prämiengeschenke zu leisten. Diese Kundenwerbung stehe den Einlagen in den Topf krass entgegen. Die AOK hätte seit 2009 100  000 neue Mitglieder geworben. Der Passauer AOK-Direktor Günter Schober bestätigt, dass es allein bei seiner AOK über 8000 neue Mitglieder gibt. Er habe das aber nach München gemeldet. Er hoffe, dass die AOK Bayern an den Verhandlungstisch gehe.
Diese neuen Mitglieder seien nicht berücksichtigt, so Dr. Werner. Deshalb sei „nicht nachzuvollziehen, warum nicht mit 30 Millionen Euro, das sind 0,25 Prozent des AOK-Bayern-Haushalts, die Puffertage auf Null gestellt werden“.
Die AOK Bayern weist den Schwarzen Peter der KZVB zu. Diese sei ihren Aufgaben nicht nachgekommen, ist in mehreren Pressemitteilungen zu lesen. Man habe früh darauf hingewiesen, dass „aufgrund der Abrechnungszahlen 2009 und der Prognosewerte 2010 klar sein müsse, dass im Jahr 2010 eine Überschreitung der Gesamtvergütungsobergrenze droht.“ Die KZVB sei überdies stets über die Mitgliederveränderungen der AOK informiert gewesen, habe jedoch „nicht steuernd eingegriffen und so die Situation honorartechnisch eskalieren lassen“. Die AOK habe für 2010 7,5 Mio. Euro angeboten: „Für die zusätzlichen Forderungen der KZVB in Höhe von 30 Millionen Euro sehen wir keinen Spielraum.“


„Gesundheitssystem
vor dem Kollaps“


Dr. Markus Werner hat gerade den Rücküberweisungsbescheid für das Jahr 2008 bekommen. Damals gab es zwei Pufferwochen. Honorar in Höhe von 2000 Euro wurde ihm jetzt abgezogen. Auf drei Monate hochgerechnet wären das 12 000 Euro. Die Abrechnung erfolge ohnehin erst in zwei Jahren, bis dahin bekäme er erst einmal gar nichts und dann eventuell nur ein Drittel des ihm zustehenden Honorars. „Wir sind unternehmerisch tätig, mit laufenden Fix- und Personalkosten. Wir müssen die Patienten aufklären, wie es um uns steht. Das ist in Einzelfällen durchaus existenzgefährdend.“ Erkrankung müsse bekämpft werden, dazu gebe es Therapeuten. „Deren Vergütungen zu budgetieren, heißt nichts anderes als der Feuerwehr die Löschwassermenge zu begrenzen.“
Dr. Galler und Dr. Werner sprechen von einer „legitimierten Zechprellerei“ der AOK. Für sie steht fest: „Wir stehen vor dem Scherbenhaufen eines Gesundheitssystems, das aus allen Nähten platzt. Wortreichen Ankündigungen der Politiker steht deren menschenverachtende Naivität entgegen. Sie entwerfen ein Mangelsystem nach dem anderen, statt endlich den Mut zu haben, den gordischen Knoten der Verklausulierung und Reglementierung zu durchschlagen.“ Die Politik hätte die Budgetierung eingeführt, und der Schaden, den sie nun bei den Ärzten anrichte, ziehe die Patienten in eine Rationierungsfalle. „Die Anzeigen, die wir geschaltet haben“, so Dr. Galler, „sind nicht anstößig, aber anstoßend.“
Die ZÄF Passau hat bislang vier von Juristen auf ihre Zulässigkeit überprüfte Anzeigen geschaltet. Auch hier drohte die Situation zu eskalieren. Der ZÄF wurde mit Klage gedroht. „Das ist ein eindeutiger Eingriff in unser Recht der freien Meinungsäußerung“, so Werner. Es sei übertrieben massiv agiert worden seitens der AOK und mit Klage, auch mit einem Kassenentzugsverfahren, gedroht worden. Doch Dr. Werner und AOK-Chef Schober haben sich zunächst zum Gespräch getroffen. Man habe bislang partnerschaftlich zusammengearbeitet und wolle dies auch nun tun, so Schober. Er habe über die Situation laufend nach München berichtet und eine zeitnahe Beilegung des Konflikts gewünscht, um bei den Versicherten keine Unsicherheiten aufkommen zu lassen. „Ich kann nur feststellen, dass besonders bei uns die Patienten in gewohnter, partnerschaftlicher Weise behandelt werden, der Streit nicht auf dem Rücken der Patienten ausgetragen wird.“ Er könne die AOK Bayern nur auffordern, zur raschen Lösung des Problems beizutragen, hoffe aber auf einen baldigen Schiedsspruch durch das Schiedsamt.
Der ZÄF Passau hat wegen eines begonnenen Dialogs mit der AOK Passau einstweilen auf weitere Anzeigen verzichtet, betont aber, das es ein legitimer Schritt sei via Anzeigen auch die Krankenkassen in die Verantwortung für die Versicherten zu ziehen. Die Fronten bleiben verhärtet. Die Wogen sind allenfalls ein klein wenig geglättet.

PUFFERTAGE

Die Ausgaben für zahnärztliche Behandlungen bei den gesetzlichen Krankenkassen sind beschränkt. Krankenkassen können zusätzliche Mittel bereitstellen, um gestiegenem Behandlungsbedarf zu genügen. Geschieht dies nicht, muss die erbrachte Leistung gemäß dem Wirtschaftlichkeitsgebot reduziert werden. Jede Maßnahme muss überprüft werden, ob sie unbedingt notwendig ist. Denn bei einer Budgetüberschreitung würde das Honorar der Zahnärzte rückwirkend reduziert – im Extremfall auf ein Drittel. Die Kassenzahnärztliche Vereinigung muss deshalb die Vergütung für die Versicherten während der Puffertage aussetzen („abpuffern“), gegebenenfalls absenken.

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